Poem Eglisau ’43

von Yitzchak Mayer

Der Rhein, an dessen Ufer wir Sonntags nach der Messe spazieren gingen, Fräulein Frieda, Jackie und ich, floss weit und grün und ewig ruhend dahin, wie einer der Ströme aus dem Garten Eden – so erinnere ich mich unserer jetzt. Jetzt, auf meine alten Tage, in denen ich mit feuchten Augen zurückschaue in der Kindheit Spiegel, mit den Farben des Regenbogens, aber auch mit Weiß, aber auch mit Grau, aber auch das in Scherben Zerbrochene, aber auch dieser Rhein. Wir verließen unser Haus in Braunschweig stets durch den stillen Friedhof, der mit seinen Kreuzen gleich einem Garten zu Fuße der Dorfkirche liegt, und kamen zu jenem Pfad, der sich vom Pier, an dem noch Jollen lagen, bis zur Bogenbrücke hinzog, die sich aus der Ferne betrachtet bis zu den Wolken und dem Himmelblau wölbte, fest auf der Grenze des Horizontes stehend, und uns vor dem was jenseits lag bewahrte. Frieda sprach den ganzen Weg über, erzählte Nettigkeiten, die ich vergaß, machte heiter Reime auf Frühlingsblumen und Sträucher, auf den Baum, der sich aus dem Wald an das Flussufer verirrt hatte und sich nachdenklich im Wind wiegte, anscheinend auch auf manches, das uns irgendwie belustigte, denn ich erinnere mich, als wär’s heut’, dass wir schnurstracks ohne Hopsen und ohne Springen gingen, wie es eben Heranwachsenden zueigen ist, die ihre Schritte immer und überall bemessen lernen, und wie wir in Lachen ausbrachen, als ob wir uns mit dieser Heiterkeit über jenes Vergnügen bedanken wollten, das uns unsere Fräulein Frieda bei diesen Ausflügen am Rhein bereitete.

Sie war eine Frau von niedriger Statur, ihr graues Haar sorgfältig gebunden, leuchtende Augen, strahlendes Gesicht, eine kleine Perlenkette um den Hals. Sie zog sich nie bunt an, trug aber auch kein Schwarz, sondern meist dunkelblaue Töne, mitunter blütenweiß, vereinzelt grau — auch ihr Schuhwerk, mit flachen Sohlen, die ihr leichtfüßiges Gehen befleißigten; kerzengerade ihr Gang, geschmeidig zart und behende, alleinstehend um die Sechzig, eine noble Verwandte, die, entrückt der Welt[1] , sanft uns die Pfade ebnete. Ich weiß nicht mehr, wie wir anfangs miteinander gesprochen hatten. Als Kind sprach ich in der Sprache, die ich gerade aufschnappte — wie, ist mir unklar, falls überhaupt — in meinen Lebensabschnitten, die mich heimsuchen, und sie — sie sprach und erzählte so schön, sagte alles so klar mit dem Klang des Schwyzerdütsch in souveränem Hochdeutsch, sprach fließend das Englisch jenes Oxfords, wo sie eine zeitlang studiert hatte, und Französisch – ein Mädchen vom Lande, das als Tochter der Freiheit von dannen gezogen war, hinweg über die Kreuzwege der Sprachen, die die Schweiz größer machen, als all jene, die sie in sich birgt – aus ihrer Sprache und unserer Sprache schuf sie eine gemeinsame – sie und wir: wie wunderbar! So also sprachen wir, unterhielten uns gut und hörten zu, dann lernten wir Deutsch „und ruhig fließt der Rhein“[1] bis heute mit ihrer Stimme in mir. Womöglich.

Eines Tages fragte Jackie sie, warum stehenbleiben, gehen wir doch bis zur Brücke, durch die Bögen, die hohen, die wie Pforten weit geöffneten – es ist doch nicht verboten – und schauen, was dort dahinter ist. Das ist weit weg, sagte sie, nur nicht in Kilometern. Eines Tages wirst Du das auch noch sehen. Jackie schwieg. Gab nach. Abends aber flüsterte er mir zu, unser Fräulein habe gelogen. Ich hätte mir sowas nicht erlaubt. Jackie aber sprach frisch von der Leber weg. Ich sagte, sie habe uns ein Rätsel gestellt, nicht gelogen, das Fräulein lüge doch nicht. Er aber drehte sich um und sagte leis, so ein Rätsel sei wie eine Lüge. Sogleich war er wieder eingeschlafen. Damit war die Sache erledigt. Ich fragte nicht nach des Rätsels Lösung. Es gab kein Rätsel, keine Lösung des Rätsels, die nicht ein geheimes Gebet gewesen wäre. Mir fiel’s nicht schwer. Eglisau hörte an dieser Brücke auf, als wäre dort das Ende der Welt. Doch Kinder spazieren nunmal nicht bis ans Ende der Welt am Rheinufer entlang. Unsere Mutter war am Ende der Welt. Das sei in Lausanne, sagte das Fräulein, und auch unser Bruder – der kleine Yvan Pièrre – war dort am Ende der Welt bei der Mutter. So überschaubar war also meine Welt – die Mutter allein mit dem Baby dort jenseits der Brücke, hier Jackie und ich, die wir nunmal die Kinder unserer Mutter waren, welche wir schlichtweg genauso sehr liebten, wie sie uns liebte, einfach so, am Ende der Welt.

Wir hatten auch ein anderes Ende der Welt, wo unser Vater sein Ende fand. Eines Nachts, in Marseille, holte ihn die Gestapo ab. Seitdem ist unsere Welt so, als ob hinter dieser Brücke noch eine Brücke liege, soweit dahinter, dass Kilometer scheinbar nicht mehr ausreichten und selbst unsere Mutter jenseits ihrer Brücke nicht mehr weiß, wo seine Brücke denn noch sein könnte. All dies stellte für mich kein Rätsel dar, das alles war ganz offensichtlich. Ich hätte darum das Fräulein nicht fragen müssen, warum sie zu meinem Bruder Jackie gesagt hatte: Eines Tages wirst du auch dort sein. Versteht sich doch von selbst. Aber wenn ich ehrlich bin, dann hatte ich einen Moment lang Angst, Jackie würde auch fortgehen. Doch Jackie und ich gehörten so zueinander, dass, wohin auch immer er ging, ich nicht ohne ihn gehen würde, seine Schultern umfassend. Wie dem auch sei.

Jackie wollte weitergehen. Ich wollte nicht weiter als bis nach Eglisau. Jackie suchte. Ich fand. Acht Jahre alt damals. Er war erst sechs und für ihn gab es nur uns, ihn und mich, Brüder am Ende der Welt. Ich wollte nur bis zur Brücke – er: Warum dort stehenbleiben. Man soll doch nicht lügen.

Ich bin mir nicht sicher, aber so erinnere ich mich eben, dass ich am Rheinufer zum ersten Mal gehört habe, es gäbe einen Gott im Himmel. Möglich, dass ich mich täusche, möglich auch, dass man schon so nebenbei und im Vorübergehen von Gott gesprochen hatte, ich aber einfach nicht wusste, wovon da die Rede war, da mir doch nie ein Wort entging, und erst jetzt, am Rheinufer, sprach das Fräulein hingebungsvoll von Gott, wie als sei Gott jemand, den sie kannte, mit dem sie sich Tag für Tag traf. Jemand, der im Dorf wohnte,in den Weinbergen spazierte, die Hügel hinauf und hinab zum Fluss ging, dabei jeden Baum zählte, der nachts der Träumenden Schlaf hütete, der nach einem Gewitter seinen  erquickenden Regenbogen hinstellte und die Farben des Friedens daran aufhängte.

All das blieb anfangs noch unverständlich, denn der Gott des Fräuleins war in den Flügeln eines auf einem Blatt ruhenden Schmetterlings, im Stumpf eines vom Blitz abgeschlagenen Asts, in einer winzigen Schneeflocke, sagte sie, in der brodelnden Lava eines schmelzenden Berges, in einer Schafherde, sie sagte, sogar zwischen Wölfen und Haien, und als wir in Eglisau ankamen, war der ganze Weg dahin Gott gewesen. Außerdem, sagte sie, sieht er sogar alles. Überdies, sagte sie, hört er sogar alles. Und nein, er sei nicht in der Kirche, sagte sie, dorthin geht man nur, um sich daran zu erinnern, dass der Gott der ganzen Welt in der ganzen Welt sei. Gott ist gut, sagte sie. All dies so nebenher beim Laufen, während sie Geschichten erzählte über goldgelockte Mädchen, die sich aus Liebe in den Wassern des Flusses ertränkten,[2] über Riesen und Zwerge, über Galilei und Wilhelm Tell, über alles, bis Gott nichts blieb als all jenes, der Freuden und Heldentaten alle, die man sich beim Spaziergang erzählte, so als ob es gestern geschehen sei, so als ob es schon morgen geschehen würde, so als ob die Zeit nichts war, als eine frische Brise am Rheinufer und die Strophe eines kleinen Volkslieds. Auf diesem Weg lustwandelten jeden Sonntag Paare von Menschen, Paare von Frauen, die im sich Vorbeigehen mit hellem „Grüezi“ grüßten,

das wie kleine Glocken klang, doch Kinder fanden sich keine unter den Spaziergängern, außer Jackie, mir und dem Fräulein. Es schien, als ob sonntags alle Kinder an einem besonderen, nur für sie bestimmten Ort waren und spielten, und als ob wir, Jackie und ich, anders als diese Kinder waren, eben wie all die anderen am Rhein Lustwandelnden, doch von allen Kindern der Welt hatten nur wir ein Fräulein.

Sie war das Fräulein Frieda, von Max, Sohn wohlhabender Familie aus Legnano, vielleicht auch aus Endingen,[3] ein Dorf, jedenfalls, er wurde ganz allein nach Eglisau abgeschoben, damit er mit seinem seltsamen Lebenswandel nicht die Familientradition zu Schanden kommen ließ. Man ließ ihm dort ein Haus einrichten, stellte ihm eine Magd an, eine Dienerin adliger Häuser zu Oxford, der Universitätsstadt des fernen Englands, eine von tausend Mägden, vom Lande, arm, hatte die See überquert, um in der großen Welt Theologie zu studieren, ganz ihrer edlen Gesinnung folgend. Das also war das Fräulein Frieda, Gantert ihr Name, das war noch vor dem Kriege. Und Max war Jude.

Der einzige Jude, kurioserweise, im ganzen Dorf Eglisau – besaß nur einen einzigen Anzug, den er nur einmal im Jahr anzog, zum Versöhnungstag, wenn es also erlaubt war, mit den Braunschweigern im Bethaus ihres Dorfes zu fasten. Max aber, der sich sonst schwer tat beim Reden, hörte jedes Jahr, wenn er zurückkam, nicht mehr auf, davon zu erzählen, was er dort gehört und gesehen, was sich an diesem Versöhnungstag ereignet hatte, dort im Bethaus, im Dorfe seines Vaters. Dabei schimpfte er in einem fort, er liebe jeden, auch wenn dieser ihm nicht zugeneigt sei, und sagte, deswegen haben meine Vorväter jenen Jesus gekreuzigt, floh dann vor den mit ihren Schultern Zuckenden, damit sie ihn nicht fassten.

Er ging zuweilen die Kuhweide hüten, auch wenn dort keine Kühe waren, kam dann zurück, setzte sich auf den Brunnenrand in der Dorfmitte, sprach die Vorübergehenden an und sagte: Beeilt Euch, bald ist er hier, der verdammte Hitler, zum Teufel karren wird er Euch, ich aber, ich warte hier auf ihn, mit dem Stock – ihr werdet’s noch sehen –, bei mir wird er’s sich nicht trauen und bald kommt die Esther Hamalka! Danach würde er vom Brunnenrand steigen, einer Frau beim Tragen helfen, hinter einer Sau her rennen, die aus ihrem Stall geflohen war, sie zu ihrer Herde bringen, und, noch schnaufend, mit donnernder Stimme verkünden: Der Saujude hat’s wieder geschafft. Alle hatten ihn ihr Herz geschlossen. Ärgerte ihn jemand, zahlten man es ihm sofort heim, demjenigen, der nicht verstand, dass Max eine Art Dorfheiliger war und dass der, der ihm etwas antat, als jemand galt, der Unglück heraufbeschwor. So jemand riskierte gar seine Ausstoßung, die die mächtige Hand des Pfarrers samt öffentlicher Zurechtweisung über ihn verhängen würde.

Zu dem Haus in Braunschweig, in dem nur Max wohnte, und Fräulein Frieda, begleiteten uns zwei Frauen in den Zügen, die in La Cure an der Schweiz-Französischen Grenze in jener Nacht abfuhren, als Mutter zusammenbrach, als ihre Füße unter ihr im Schnee froren, als Jackie und ich ihr die Hände hielten – sie hatte Angst, sie könnte jeden Moment auf der Türschwelle des Wärterhäuschens die Frucht zu gebären, die sie noch in ihrem Leibe trug, auf der Flucht vor jenen, die unseren Vater dorthin genommen hatten, von wo er noch nicht zurückgekommen war, und wo sie nun eingesperrt wurde, als Verbrecherin, illegal Einreisende, als schlimme Bedrohung für die Schweizer Neutralität. Soldaten nahmen uns in Verwahrung, die sich gegenseitig fragten, was denn nun genau auf dem Bogen Papier zu stehen habe, der allerlei Fragen stellte, auf die es keine Antworten gab, zum Beispiel,

welche Adresse man habe, wer man sei, von wo man komme und warum, wann und wie, mit oder ohne genauem Kalenderdatum. Jackie und ich waren nun auf uns gestellt, wussten nicht, was gesagt werden durfte, standen mit gesengten Köpfen, vor Scham darüber, schneebedeckte Berge überquert zu haben, voller Menschenjäger, die durch die Nacht wie Gespenster glitten, Frauen und Kinder einfangend, die im Dunkeln auf ein winziges Licht zugingen, das die Schluchten der Berge erleuchtete und darin verschwand.

Man gab uns jenen beiden Frauen in Obhut, die uns, unerträglich gefühllos, beorderten: Sagt Eurer Mutter Lebewohl, von hier fahren wir in den Norden, da warten gute Menschen auf Euch, die werden schon Mitleid mit Euch haben. Doch Jackie sagte, ich gehe nicht, ich sage meiner Mutter nicht Lebewohl, da nahm ich ihn bei der Hand, schob ihn mit Gewalt vor mir her, Mutter war schon weg und ich, ich küsste den Kopf meines Bruders. Dann fuhren wir ab.

Anfangs hatte Max Angst, dass wir ihm seinen Platz zu Hause wegnehmen. Alle Stühle gehörten ihm, alle Ein- und Ausgänge waren seine Türen; nur er würde die geschlossenen Jalousien öffnen, nicht wir, sagte er. Er lief in der Wohnung herum, unterhielt sich flüsternd mit den Gegenständen, so als ob er sie beschwörte, sich keinem falschen Gott zuzuwenden.

Frida wies ihn sanft zurecht und sagte: Deine Brüder sind es, Max, zu Dir sind sie aus dem Krieg gekommen, wie als zu einem großen Bruder – behüte sie, bis wir sie ihrer Mutter gesund und wohlbehalten zurückgeben können. Und Max sagte: Behüten werde ich sie, so wird sie auch mir Mutter sein. Kaum waren einige Tage vergangen und schon brüstete sich Max im Dorf, dass er der Hüter seiner Judenbuben sein, wie er uns nannte. Im Dorf aber sprach man von uns ehrfurchtsvoll als „die Flüchtlingskinder“. Frau Meier von gegenüber goss uns sofort, als sie uns sah, Apfelsaft ein – oder war es Pfirsichnektar – jedenfalls nannte sie uns Kriegskinder. Nur der Lehrer, Herr Immler, der alle Kinder des Dorfes in einer Klasse unterrichtete, nur er blieb in guter Erinnerung, er hatte mich bei meinem Namen Erwin Mayer und Jackie bei seinem Namen Jacques Mayer genannt – der Pfarrer: die Kinder bei Frieda.

Frieda bescherte uns einen geordneten Tagesablauf, genau geregelt nach der Uhr: pünktliches Aufstehen, akkurat festgelegt waren Essenszeiten, Schule, Ruhezeiten und Freizeit – einmal in der Woche Arbeit im kleinen Garten und ein Tag, an dem wir ein oder zwei Zeilen dem hinzufügten, was Frieda allwöchentlich der Mutter schrieb und sie uns immer noch einmal laut vorlas, bevor sie das Kuvert schloss. Inmitten all dieser Ordnung fanden wir, Jackie und ich, noch Zeit um zwischendurch herumzustromern und uns allerlei Spiele ohne Kinder auszudenken. Wie stellten uns vor, wir eroberten ferne Kontinente und Meere, regierten dort wilde Stämme und brachten ihnen Lieder bei, die der Glockenturm zu Eglisau spielte, erzählten dann Frieda, wir hätten uns verspätet, weil wir uns verlaufen hatten. Max, der uns immer hinterher spionierte, sagte ihr, wir seien schon längst zurück.

Dann brachte sie uns irgendwelche Karten mit Heiligenportraits zum Ausmalen, die sie aus der Kirche hatte. Lauter Heilige des Alten Testamentes, sagte sie, darunter Adam, Noah, Abraham, Isaak auf dem Altar und Jakob mit der Herde. Sie pflegte zu sagen, ich will der Mutter ihre jüdischen Kinder so zurückgeben, wie sie uns in Eglisau übergeben wurden. Bis zu dem Tag, an dem alles wieder in Ordnung sein wird – auch Ihr, Euer Vater, Eure kleinen Kinder und natürlich Eure gute Mutter, die auf Euch wartet. Wir malten also Heiligenbilder aus.

Es gab auch Tage der Freude im Dorf sowie nächtliche Prozessionen mit Fackeln und ausgehöhlten Rettichen als Lampenschirme für die brennenden Kerzen, sowie Masken und allerlei Rasseln. Wir waren zwar Fremde, gingen aber mit, so als ob auch wir nur glückliche Kinder Eglisaus waren. Dann waren da noch die Tage der Weinlese, die Tage voller Leitern an den Kirschbäumen, Erntetage, nach Regenfällen kamen Tage des Pilzsammelns im Wald, und auch lange Tage, von denen wir nichts sahen, da man uns in andere Tage Eglisaus hinein pflückte.

Max ging nicht am Rhein spazieren. Er fürchtete sich vor dem Wasser wie vor dem Tod und hatte Angst, der Fluss würde über seine Ufer treten. Leichtsinnige nur, die nicht wussten, dass sowas passieren konnte, gingen am Ufer des Rheins spazieren, doch der Rhein ist trügerisch, dessen war er sich sicher. Er wartete stets, bis wir zurückkehrten, warf dann Frieda einen vorwurfsvollen Blick zu, ging in sein Zimmer, schlug die Tür zu, ließ das bekannte Fluchwort hören. Wir, Jackie und ich, saßen dann neben dem Fenster und schauten hinaus auf den Tag, der auf der breiten Straße sein Leben aushauchte und langsam vom Hügel bis zum Wasser sank, und wussten von nichts.

Aus irgendeinem Grund hatte der Krieg aufgehört. Davon hatten die Toten nichts mitbekommen. Das Leben nahm wieder seinen Lauf auf in den Bahnen der zerstörten Welt, Männer und Frauen ihren Lauf zu jener Schwelle, die sie erwartete. Auch Eglisau war abgeschlossen. War fortan verschlossen für uns. Wir waren ausgeschlossen. Von dort. Ausgewiesen wurde auch unsere Mutter und so machten wir uns wieder gemeinsam auf jenen Weg, den wir schon einmal bis nach La Cure gemacht hatten, wo man uns getrennt hatte, denn in La Cure hatten wir ohne Genehmigung den Tod passiert. So war es also, bis dahin war alles nichts als all dies.

Auch was aus uns wurde war schlichtweg nur das, was aus uns wurde, denn so ist sie nunmal, die Welt. Jedem seine Welt, jedem sein Gefängnis, jedem sein Rhein. Max wurde in seines Vaters Dorf auf dem Friedhof begraben, gehüllt in einem Gebetsmantel. Frieda schied alleingelassen von der Welt, an ihrem Grab sagte keiner Adieu. Ihrer Seele zündete ich ein Licht an nur.

Über den Autor

Yitzchak Erwin Mayer (4. Oktober 1934 in Antwerpen – 9. Juni 2020 in Kochav Yaïr, Israel) war ein israelischer Schriftsteller, Dichter, Pädagoge und Diplomat. Mayer wuchs in Antwerpen auf, von wo aus seine Familie im Mai 1940 floh — zwei Tage vor Ankunft der Wehrmacht. Der Familie gelang die Flucht nach Frankreich – in einem überfüllten Zug, der unterwegs beschossen wurde und von dem nur zwei Waggons in Südfrankreich ankamen. Die Passagiere wurden an der spanisch-französischen Grenze inhaftiert, doch Mayers Vater, Moritz Leib Mayer, gelang die Flucht. Er schloss sich der Résistance an, für die er Dokumente fälschte. Er wurde denunziert, im Januar 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Der Rest der Familie gelang die Flucht aus dem Internierungslager Camp de Gurs und lebte fortan in Marseille. Als Mayers Mutter, Rosalia (geb. Winkler) sich nicht weiterhin als Französin ausgeben konnte, weil sie kein Französisch konnte, floh sie mit ihren beiden Söhnen in die Schweiz. Der Rückweisung entging sie, da sie hochschwanger war. Zehn Tage nach der Einreise wurde ihr dritter Sohn, David (Yvan Pierre), in Lausanne geboren. Sie wurde von ihren Kindern, inklusive dem neugeborenen Sohn getrennt, der einer Pflegefamilie in Bern übergeben wurde. Dort lebte er bis zum Kriegsende lebte, bevor er seiner Mutter zurückgegeben wurde, die bis dahin interniert war. Ihre ersten beiden Söhne – Yitzchak und Jacob (Jacquie) Mayer – wurden in Eglisau untergebracht. Für die Unterbringung kam die Gideon-Familie auf, da jüdische Flüchtlinge in der Schweiz keine finanziellen oder lebensnotwendigen Unterstützungen erhielten. Von dieser Zeit erzählt das vorliegende Poem – Mayers letztes literarisches Werk, das am 20. Januar 2020 abgeschlossen wurde.

Dank der Gastfreundschaft der Eglisauer Bürger überlebte ein Rest von Mayers Familie und konnte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel einreisen. Dort heiratete Mayer seine Frau Rivka (geb. Gormezano). Sie wurden stolze Eltern dreier Töchter – Esti, Effi und Chayaleh – sowie Großeltern von sechs Enkelkindern. Nach dem Studium an der Hebräischen Universität leitete Mayer von 1960-1979 die Jugenddorfschule Yemim Orde und war als Erzieher in verschiedenen, teils leitenden Stellungen tätig. In der Jewish Agency for Israel leitete er die Abteilung Jüdische Erziehung in der Diaspora. Er trat dem diplomatischen Korps bei, wurde israelischer Generalkonsul in Zürich und in Montreal. Danach wurde er israelischer Botschafter in Belgien und war später stolz darauf, Israel als Botschafter in der Schweiz zu vertreten. Zu seinen letzten Publikationen zählt unter anderem seine in mehreren Sprachen veröffentlichte Autobiographie (אישה אחת), unter den Titeln Silent Letter (engl.), La Lettre Muette (franz.), Una Mujer (span.) – demnächst auch unter Eine Frau in deutscher Übersetzung.

Auf Besuch in Eglisau 1974

Auf Besuch in Eglisau 2016

Literaturangaben

In französischer Sprache
Lettre Muette,; Yitzchak Mayer, Edition Alphil, 2013; 2002 Neuchâtel, ISBN 978-2-940489-42-8; www.alphil.ch

In englischer Sprache
SILENT LETTER by Yitzchak Mayer, Trade Paperback; Nonfiction/Memoir; May 2017, 978-1-77161-243-2 $21.95 US, All Mosaic Press titles are distributed in the United States by IPG http://www.ipgbook.com/

In deutscher Sprache
Poeme «EGLISAU `43» Bezug bei Gemeindeverwaltung Eglisau, Obergasse 17, 8193 Eglisau

weitere Auskünfte: info@weierbachhus.ch